Monat: Oktober 2017

Selim Özdogan: Schrödingers Esel hat ein paar Fragen

Selim Özdogan hat die immer wieder aufköchelnde öffentliche Debatte zum deutsch-türkischen Verhältnis in einem entlarvenden, intelligent-augenzwinkernden Zeitkommentar gebündelt, der aktueller nicht sein könnte.

Lies hier seine pointierten Beobachtungen, die mitten ins Herz einer omnipräsenten politischen Diskussion treffen:

 

Selim Özdogan: Schrödingers Esel hat ein paar Fragen

 

Wenn jemand in der Türkei Wie bei Nasreddin Hodscha sagt, dann weiß der Gesprächspartner, auf welche der vielen Geschichten des Hodschas angespielt wird.

Nasreddin Hodscha ist eine Schelmenfigur, die im 14. Jahrhundert in Anatolien gelebt haben soll. Er ist Hauptperson zahlreicher Anekdoten und Geschichten, die in der Türkei jeder kennt, unabhängig von Region, sozialer Schicht und Bildung.

Foto: Tim Bruening

1

Der Hodscha beschloss eines Tages, seinem Esel das Fressen abzugewöhnen. Dafür gab er ihm einfach jeden Tag etwas weniger Futter als am Vortag.

Verdammt, sagte der Hodscha nach vier Wochen, kurz bevor ich ihn soweit hatte, ist der Esel einfach gestorben.

2

Die Redewendung vom Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, scheint mir etwas Ähnliches auszudrücken. Der Punkt, ab dem etwas zu viel wird. Nur dass ein Fass grundsätzlich für Flüssigkeiten gedacht ist, ein Esel aber nicht zum Hungern. Jeder Tropfen, der in das Fass fällt, hat seine Berechtigung, bis auf den letzten. Was man von den Kürzungen der Futterration nicht behaupten kann.

Das macht den Esel in diesem Text zu einem plausibleren Symbol für die Demokratie als das Fass.

3

Der türkische Satiriker Aziz Nesin saß 1944, 1947 und 1949 jeweils mehrere Monate wegen seiner Schriften im Gefängnis.

Der Journalist Uğur Mumcu saß 1971 fast ein Jahr wegen Verunglimpfung der Armee im Militärgefängnis, bevor das Urteil, sieben Jahre Haft, aufgehoben wurde. 1993 starb er bei einem bis heute nicht aufgeklärten Bombenattentat.

Die Seite tutuklugazeteciler.blogspot.de listet seit 2010 die Namen in der Türkei inhaftierter Journalisten auf.

2012 wurde die Studentin Duygu Kerimoğlu festgenommen und der RedHack-Mitgliedschaft beschuldigt. RedHack ist eine türkische Hacker-Gruppe, die vom Staat zeitweilig als Terrororganisation eingestuft wurde. Duygu Kerimoğlu saß 9 Monate in Untersuchungshaft, bevor sie am ersten Verhandlungstag freigesprochen wurde.

Der Soziologe Erol Özkoray wurde 2014 wegen Präsidentenbeleidigung zu 11 Monaten Haft verurteilt. Er hatte ein Buch über die Gezi-Prostete geschrieben und darin Graffiti zitiert.

Bekannt geworden in Deutschland ist aber 2016 der Journalist Can Dündar, der auch den Präsidenten beleidigt und zudem Staatgeheimnisse veröffenlicht haben soll. Im Gegensatz zu den anderen durfte er dann ohne ein Wort Deutsch Sendungen im deutschen Fernsehen co-moderieren.

Dieser Tage fordern viele die Freilassung von Deniz Yücel. Auf Twitter einzusehen unter #freedeniz.

Deniz heißt übrigens Meer.

4

Seit wann gibt es in der Türkei keinen Rechtsstaat und keine Meinungsfreiheit mehr? Ist der Esel, den wir Demokratie nennen, schon längst verhungert oder könnten wir ihn noch aufpäppeln? Wann hätten wir einschreiten müssen? Hätten wir einschreiten müssen? Wer ist wir? Und was heißt eigentlich Demokratie?

5

Als 2008 in der Türkei die Entmachtung des Militärs im sogenannten Ergenekon-Prozess begann, wurde das in Deutschland als ein Schritt zur Demokratisierung betrachtet.

Hat sich der Kurs seitdem geändert oder nur unsere Perspektive? Haben wir damals die Entwicklungen falsch eingeschätzt? Gibt es ein deutsches Interesse, die Situation auf die eine oder andere Weise zu deuten?

In der Türkei gab es schon damals zahlreiche Stimmen, die darauf hingewiesen haben, welcher Regierungsform hier der Weg geebnet wird. Keine davon fand Gehör in Deutschland.

6

Auf dem 1992 erschienen Album The Future von Leonard Cohen gibt es ein Stück mit dem Titel Democracy, in dem es heißt: Democracy is coming to the USA.

Es ist kein ironisches Lied. Es ist ein Lied voll tiefer Anteilnahme und eine Bejahung des Experiments der Demokratie in diesem Land. Hier entfaltet sich das Experiment. Hier sind die Rassen miteinander konfrontiert, die Klassen, die Geschlechter, die sexuellen Orientierungen. Das ist das Versuchslabor der Demokratie, sagte Cohen dazu.

Möglicherweise gibt die derzeitige Situation in der Versuchsanstalt Auskunft über den Zustand der Demokratie im Allgemeinen.

7

Nach dem Demokratieindex von 2014 leben etwa 12,5 Prozent der Weltbevölkerung in einer vollständigen Demokratie.

8

Für einen großen Teil dieser 12,5 Prozent scheint die Demokratie ein Fetisch zu sein.

Jede andere Regierungsform erscheint ihnen minderwertig, inakzeptabel oder unvorstellbar. Oder bestenfalls verbesserungsbedürftig.

Man darf keinen anderen Fetisch haben neben der Demokratie.

Ein Merkmal eines Fetischs ist, dass man ihn nicht frei wählt.

9

Die Idee der Demokratie geht davon aus, dass die Menschen gleichwertig sind, akzeptiert also alle auf Augenhöhe. Keiner ist prinzipiell besser oder schlechter. Die Unterschiede zwischen reich und arm, Mann und Frau, heller und dunkler Hautfarbe, zwischen Gläubigen, Agnostiker und Atheisten haben keinerlei Aussagekraft hinsichtlich des Wertes eines Menschen und werden angesichts des Esels, den wir Demokratie nennen, vollständig nivelliert.

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Die Idee der Nation geht davon aus, dass die Menschen nicht gleichwertig sind. Besitz von Identität und Pass bedeuten erhebliche Unterschiede hinsichtlich Selbstverständnis und Privilegien, von denen die Reisefreiheit das offensichtlichste ist.

11

Die Demokratie scheint ähnlich viel Glauben zu verlangen wie eine Religion. Man möchte an Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit glauben, die gemeinsam auf dem Rücken des Esels sitzen, doch der Esel bekommt nicht genug Futter, um alle tragen zu können.

12

Wer möchte denn wirklich, dass es im Grunde keinen Unterschied macht, ob man Manager bei VW ist oder Hartz IV bezieht? Wer möchte denn sein Essen, seine Kleidung, seine Wohnung, seine Glauben und seine Liebe mit Fremden teilen? Wer möchte denn, dass Bettler sich in Restaurants einfach zu uns setzen dürfen? Wer möchte denn, dass da niemand mehr ist, über den man sich erheben kann? Oder wer möchte mir nochmal hinterherrufen, dass ich mit dem Fahrrad in der falschen Richtung durch die Einbahnstraße fahre?

13

Baudrillard sagt, dass Disneyland nur erbaut wurde, um zu verbergen, dass unsere gesamte Welt auf Fiktionen beruht. Jede Stadt, jede Fabrik, jede Straße, jeder Schienenweg ist ebenso ein Produkt der Phantasie wie ein Vergnügungspark. So ähnlich zeigt man vielleicht mit dem Finger auf ein anderes Land, um zu verbergen, dass man selbst die Idee der Demokratie auch noch nicht verwirklicht hat.

Der Hungern des fast toten Esels lenkt davon ab, dass die, die besser im Futter stehen, auch nicht satt werden.

14

Den Fehler immer beim anderen zu suchen, führt in einer Beziehung zu allen möglichen Dingen, aber nicht zu einem gemeinsamen Wachstum. Oder auch nur zu eigenem.

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Kein Psychiater, Psychotherapeut, Beziehungs-, Seelen-, Business- oder anderer Coach versucht in seiner Arbeit mit Menschen, die Reaktionen der Umwelt zu ändern, sondern immer nur das Verhalten des Klienten.

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Pressefreiheit und Meinungsfreiheit gehören zum Esel wie die Ohren und das Maul, sie können weder beschnitten noch verboten werden.

17

Wie Fake News da reinpassen, ist schwer zu erklären. Vielleicht so: Das Problem sind nicht unbedingt die falschen Nachrichten. Das Problem sind eher die Menschen, die nicht nach Fakten und Zusammenhängen Ausschau halten, sondern nach einer Bestätigung ihrer eigenen Meinung.

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Die Sache wird komplizierter, wenn die eigene Meinung von der Meinungsfreiheit überzeugt ist.

19

Das Gefühl der moralischen oder auch demokratischen Überlegenheit ist eine Droge. Es berauscht, führt zu Größenwahn und mangelnder Empathie. Es verleitet dazu, die eigene Position nicht in Frage zu stellen.
Der Besitz eines halbwegs genährten Esels ist also so etwas wie Kokain. Tunnelblick und enormer Nachlegedrang, den man stillen kann, indem man sich am Anblick knochiger Esel berauscht.

20

Die deutsche Beschäftigung mit der Türkei und den Türken ist obsessiv und oberflächlich zugleich.

Das Obsessive mag mit der geopolitischen Lage zu tun haben, mit der Geschichte der beiden Länder, mit der Tatsache, dass türkeistämmige Menschen in Deutschland die größte Minderheit darstellen.

Eine Minderheit, die zu 60 Prozent aus Erdogan-Wählern besteht, wenn man den Schlagzeilen glauben möchte: „Deutsche Türken wählen konservativ“ (Süddeutsche Zeitung), „Überproportional viele Türken in Deutschland wählten AKP“ (FAZ), „Türken in Deutschland wählten Erdogan-Partei“ (Spiegel Online)

Die türkeistämmige Minderheit in Deutschland besteht aus ca. 3 Millionen Menschen, von denen 1,4 Millionen aufgrund von Pass und Alter in der Türkei wahlberechtigt sind. Von diesen 1,4 Millionen haben 34 Prozent 2015 von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, also etwa 480.000 Menschen. Von ihnen haben tatsächlich 59,7 Prozent Erdogan gewählt. Macht ungefähr 285.000. Also nicht mal 10 Prozent von 3 Millionen, doch das ist ausreichend, um sich ein Bild vom Türken in Deutschland zu machen.

Das bedeutet nicht, dass es diese 10 Prozent nicht gibt. Das bedeutet nicht, dass man ihre Wahlentscheidung nicht problematisch finden kann. Es bedeutet nur, dass sie nicht die übrigen 90 Prozent repräsentieren können.

Siehe nochmal 16 und 17.

21

Wenn ich mit meinen Kindern auf dem Spielplatz, in der Bäckerei, im Schuhgeschäft, im Eiscafé, im Supermarkt bin, bekomme ich regelmäßig die Frage gestellt: Was für eine Sprache ist das, die Sie mit den Kindern sprechen? Auf die Antwort Türkisch bekomme ich nahezu immer zu hören: Das hört sich aber gar nicht so an.

Und jedes zweite Mal fügen die Leute hinzu: Dabei weiß man ja, wie sich das anhört, wenn man in Köln wohnt.

Ich sage nie: Offensichtlich nicht.

Ich sage nie: 100 Prozent der Leute, die fragen, was das für eine Sprache ist, wissen nicht, wie Türkisch klingt.

Ich sage nie: Vielleicht haben Sie sich von meinem Aussehen zu einer bestimmten Erwartungshaltung verleiten lassen.

Ich sage nie: Vielleicht ist es auch kein Türkisch, aber alle, die Türkisch können, haben mich jahrzehntelang in dem Glauben gewogen, sie würden mich verstehen.

Wenn ich Türkisch geantwortet habe, höre ich von meinem Gegenüber aber auch nie: Das war mir nicht bewusst, dass ich Türkisch nicht am Klang erkennen kann.

Der Glaube an die eigenen Fähigkeiten ist tiefer verwurzelt als meine Sprachkenntnisse.

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Diese Metaphern und Allegorien und Symbole von lebendigen, hungernden oder toten Eseln sollten ein Ende haben.

Es geht um diese Vision der Demokratie.

Eine erstrebenswerte Vision, wenn man mich fragt.

Visionen muss der verwirklichen, der sie hat. Und darauf vertrauen, dass sie den anderen als leuchtende Beispiele dienen.

***

Im Juli 2017 erschien Selim Özdogans neuer Roman „Wo noch Licht brennt”. Alle Informationen dazu findest du hier.

Veza-Canetti-Preis 2017: Lydia Mischkulnig ausgezeichnet

Wir gratulieren Lydia Mischkulnig ganz herzlich zum Veza-Canetti-Preis 2017! Im Bild v.l.n.r. Journalistin Brigitte Schwens-Harrant, Lydia Mischkulnig und die Literaturreferentin der Stadt Wien Julia Danielczyk

Lydia Mischkulnig  wurde am 4. Oktober der Veza-Canetti-Preis verliehen. Sie wurde damit für ihr präzises, entlarvendes, feinnerviges und subtiles Werk ausgezeichnet, das in unnachahmlicher Sprache auf verborgene Machtverhältnisse hinweist und pointiert die kleinen und großen Abgründe von Psyche und Gesellschaft aufnimmt. 

„Die Autorin schafft in einer präzisen, eigenen Sprache eine vielschichtige Literatur und zeigt eine weibliche Perspektive auf die gegenwärtige Gesellschaft und deren Machtverhältnisse”, so die Fachjury der alljährlich verliehenen Auszeichnung für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Literatur.

Der Preis ist nach der Wiener Schriftstellerin Veza Canetti (1897 bis 1963) benannt, da sie eine Vielzahl literarisch wirkender Frauen repräsentiert, die (und somit auch deren Werk) in der literaturwissenschaftlichen Kanonbildung vernachlässigt sind.

In ihrer Dankesrede nahm Lydia Mischkulnig Bezug auf die Namenspatronin der Auszeichnung:

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Dankesworte zum Veza Canetti Preis

von Lydia Mischkulnig

Wien, Oktober 2017

Sie war der Nagel, der aus dem Brett herausragte und eingeschlagen werden musste. Veza Canetti hat nicht applaudiert. Sie konnte es nicht. Ihr hat ein Arm gefehlt. Dennoch wurde sie Handlangerin des Nobelpreisträgers. Ihre Rolle ist wie jede Rolle eine Zuweisung, die dann zur Zumutung gerät. Sie wusste Bescheid und folgte trotzdem männlicher Selbstermächtigung bis zur Selbstauflösung ihrer Autorenschaft.

Die Rollen, die ich zuweise, reflektieren diesen Zwang ein Genie hervorzubringen. – Worauf würde Veza Canetti heute ihren Blick richten? Auf Minderheiten, die vor Buddhisten flüchten? Auf die Psychopathologie von Geltungsssucht? Auf den Tod der Wahrheit? Auf Größenwahn, Kleingeistigkeit, Verschleierung – Variationen des feministischen Affirmationsverhaltens? Auf die Autoren und Autorinnen in den Gefängnissen der Autokratien?

Was passiert mit einer Frau, die aufgibt- oder aufzugeben scheint, weil sie ja aufgegeben ist?

Dagegen schreibe ich an. Erkunde die Unentrinnbarkeit meiner Figuren,  um sie auf den Punkt zu bringen und darin aufzuwirbeln. Das Ungefähre, in das ich mich wage, bringt ein Zittern im Sprachgitter aus Ungewissheit und Zweifel zum Vorschein, das sich auf die Zuweiserin wirft. Diesen Fängen entwische ich heute durch den Veza-Canetti-Preis, den der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti nie hätte bekommen können.  Mein Schreiben gegen das Zittern durchzusetzen ist die Devise, und so fängt es immer wieder von vorne an.

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Lydia Mischkulnig. Foto: Margit Marnul.

Lydia Mischkulnig

Lydia Mischkulnig, geboren 1963 in Klagenfurt, lebt und arbeitet in Wien. Mehrfach ausgezeichnet, u.a. Bertelsmann-Literaturpreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1996), Manuskripte-Preis (2002), Elias-Canetti-Stipendium der Stadt Wien (2007), Österreichischer Förderpreis für Literatur (2009), Joseph-Roth-Stipendium (2010), Veza-Canetti-Preis und Johann-Beer-Literaturpreis (beide 2017), zuletzt Würdigungspreis des Landes Kärnten für Literatur (2020). Bei Haymon erschienen: „Hollywood im Winter”. Roman (1996, HAYMONtb 2012), „Macht euch keine Sorgen”. Neun Heimsuchungen (2009), „Schwestern der Angst”. Roman (2010, HAYMONtb 2018), „Vom Gebrauch der Wünsche”. Roman (2014) und „Die Paradiesmaschine”. Erzählungen (2016). 2020 erschien Lydia Mischkulnigs neuer Roman „Die Richterin”. http://www.lydiamischkulnig.net

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